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    "Auf in den Wald": Autor Peter Wohlleben im Interview

    Fans und Kritiker nennen ihn gerne den „Wald-Papst“. Ein Titel, den Peter Wohlleben eigentlich nicht so gern mag. Was sich dagegen kaum abstreiten lässt, ist die Aussage, dass er zu den größten (und literarisch erfolgreichsten) Wald-Experten aus Deutschland gehört. Der 59-Jährige lebt in der Eifel, ist Förster und gründete „Wohllebens Waldakademie“, die Ausflüge, Schulungen und Waldführerausbildungen anbietet. „Der Wald“, „Der lange Atem der Bäume“ oder „Waldwissen“ heißen seine Bücher. Eines wurde sogar verfilmt: „Das geheime Leben der Bäume“ lief 2020 in den Kinos. Im Interview mit hallonachbar.de spricht Peter Wohlleben über seine Vorliebe für Buchen, warum wir unsere Instinkte mehr fördern müssen und das neue Werk „Unser wildes Erbe“.

    © Wohllebens Waldakademie Tobias Wohlleben
    Peter Wohlleben Der Wald-Experte
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    Peter Wohlleben (59) wurde in Bonn geboren und ist in Sinzig am Rhein aufgewachsen. Er studierte an der Fachhochschule für Forstwirtschaft in Rottenburg am Neckar. Es folgten zwei Jahrzehnte als Beamter in der Landesforstverwaltung Rheinland-Pfalz. Nach wenigen Jahren als Büroleiter eines Forstamtes wurde er in sein Traumrevier versetzt: Die Wälder in zwei kleinen Eifelgemeinden wurden sein berufliches Zuhause.

    Es gibt dieses berühmte Zitat von Henry David Thoreau, Autor des Klassikers „Walden“: „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben“. Ist das auch einer Ihrer Grundsätze?

    Peter Wohlleben: Für mich ist Natur eigentlich das Gegenteil: Nicht wohlüberlegt, sondern instinktiv leben. Wir Menschen haben unsere Instinkte alle noch an Bord, benutzen diese im Alltag aber sehr selten. Seh- und Hörsinn nutzen wir am meisten; Schmecken und Fühlen kommen meistens viel zu kurz. Viele Menschen glauben, ihre Sinne seien verkümmert. Das sind sie aber nicht. Sie sind nur nicht trainiert. In der Natur kann man seine Instinkte nachschärfen. Man muss versuchen, sich fallenzulassen, damit der Verstand aufhört, die ganze Zeit zu rattern.

    Können Sie beschreiben, was der Wald mit Ihnen macht?

    Das ist für mich pure Entspannung. Ich lese natürlich viel über Wälder, meistens ist das aber frustrierend: Waldsterben, Brände, Klimawandel. Wenn ich aber inmitten eines Buchenwaldes stehe, dann erdet mich das sehr und ich denke: Doch, es gibt trotz der Berichterstattung noch so viel Schönheit im Wald zu erleben.

    Welche weiteren unschlagbaren Qualitäten haben Wälder, außer dass man dort wunderbar spazieren und etwa Pilze sammeln kann?

    Wir Menschen tendieren dazu, überall den Nutzen für uns zu suchen, was grundsätzlich auch nicht schlimm ist. Ein großer Vorteil, besonders im Sommer: Bäume sorgen für Kühlung. In Großstädten wie Berlin zeigen Langzeituntersuchungen, dass die Oberflächentemperatur um 15 Grad verringert wird. Es gibt deutlich mehr Regen, da wo Wälder stehen, weil der Ausstoß von Kondensationskeimen für Niederschlag sorgt. Wälder erzeugen sogar eigenes lokales Wetter, bis hin zu eigenen Tiefdruckgebieten. Der Stadtpark in Hamburg ist für die Wohnumgebung ein Riesengewinn, auch das Schanzenviertel, wo große Bäume direkt an Wohnhäusern stehen. Das ist wichtig, auch für den Lebensraum der Tiere.

    Weil Tiere auf den Bäumen Zuflucht finden?

     Für Tiere sind Häuser nur seltsam geformte Gebirge. Das übersehen wir Menschen häufig. In einer Stadt wie Hamburg leben mehr Ratten als Menschen. Nehmen Sie noch Mäuse, Insekten, Vögel und größere Säugetiere wie Wildschweine hinzu, dann erkennen Sie: Städte sind eigentlich ein Lebensraum für Tiere, der Mensch ist in der Minderheit.

    Die Buche ist Ihr Lieblingsbaum. In Ihrem neuen Buch schreiben Sie: „Lassen Sie uns alle ein bisschen Buche werden“. Warum?

    Die Buche hat wunderbare soziale Qualitäten. Sie weiß: Nur Buchen allein sind noch kein Wald. Sie sind daher so etwas wie die Familienmenschen unter den Bäumen. Sie kümmern sich aktiv um ihren Nachwuchs, helfen kranken Exemplaren, indem sie mit Zuckerlösungen unterstützen, wirken sehr ausgleichend innerhalb eines Waldes und sind anderen Arten gegenüber nicht immer kompetitiv unterwegs. Die These von Charles Darwin – „Survival of the fittest“ – wird hierzulande oft falsch übersetzt: Nicht die stärksten überleben in der Natur, sondern diejenigen, die sich am besten mit den Umständen arrangieren. Und an der Buche kann man wunderbar erkennen, wie schnell Bäume auch dazulernen.

    Stehen Sie manchmal im Wald und umarmen eine Buche? Sind Sie, wie man im Englischen sagt, ein „tree hugger“?

    Nein, so einen esoterischen Zugang habe ich nicht, was ich aber auch nicht abtun möchte. Ich fände es schön, wenn man mit Bäumen sprechen könnte, immerhin sind sie die ältesten Lebewesen auf unserem Planeten. Wenn ich einen Baum anfasse, dann ergeht es ihm wahrscheinlich wie einem Blauwal oder einem Elefanten – es ist ihm herzlich egal. Und da Bäume kein Nervensystem haben, müsste man wahrscheinlich mit einer tausendfachen Verzögerung rechnen, bevor der Baum auf meine Streicheleinheit reagiert. Man müsste also sehr viel Zeit mitbringen.

    Es gibt verschiedene Ansätze, um Wälder als Wohlfühlort attraktiv zu machen. Hochseilgärten, Rollenspiele oder Volksläufe. Vor ein paar Jahren wurde der Kurztrip in den Wald erstmals mit einem griffigen Label „Microadventure“ versehen. Nur ein Modewort für gestresste Stadtmenschen, die sich mal wieder erden sollen?

    Ich finde das gut. Genau darum geht es doch, dass man sich wieder mit diesem Ökosystem verbindet. Städte sind ja eigentlich nur Handelsplätze für alles, was da draußen passiert. Manche Menschen verwechseln die Stadt aber mit einem Ökosystem. Die Stadt ist nur dessen Brennpunkt. Sich bewusst zu machen, dass wir von der Natur abhängen, kann man am besten emotional erfahren. Vorträge sind schön und gut, aber Natur muss man erleben. Microadventures sind toll, weil sie sehr niedrigschwellig sind. Man kann sie nachmittags einbauen oder einfach mal am Wochenende machen.

    Lassen Sie uns über Ihr neues Buch „Unser wildes Erbe“ sprechen. Im Vorwort stellen Sie die Frage: „Gehören wir Menschen womöglich gar nicht mehr zur Natur?“ Wie lautet Ihre Antwort?

    Wenn es um Schutzmaßnahmen geht, dann gehört der Mensch nicht dazu. Darum geht es ja genau: vom Menschen nicht aktiv beeinflusste Gebiete zu bewahren. Biologisch oder evolutionär gesehen sind wir aber selbstverständlich ein Teil der Natur. Wir Menschen reagieren auf viele Dinge genauso wie Tiere. Wenn sozialer Stress in enormer Dichte entsteht, dann hat das Auswirkungen auf die Reproduktion, also etwa eine verringerte Samenproduktion bei Männern. Kaninchen reagieren genau so. Erwachsene Menschen in der Steinzeit sind laut Studien entgegen der allgemeinen Annahme übrigens genauso alt geworden wie heute, während uns die moderne Medizin glauben lässt, sie wäre dafür verantwortlich, dass Menschen länger leben. Die moderne Medizin behandelt vielfach Zivilisationskrankheiten. Die Spielregeln in der Natur sind also nach wie vor gleichgeblieben.

    Natur und Klima können erbarmungslos sein, was wir 2023 ein weiteres Mal anhand von Waldbränden, Erdbeben oder Flutkatastrophen erleben. Sie schreiben, dass viele Ideen zum Klimaschutz nicht ausreichen werden, weil sie zu stark aus der Vernunft heraus entstehen und nicht den Instinkt erreichen.

    Wie gesagt, Natur muss man erleben, aber es geht ja um mehr: Wir müssen unsere gesamte Gesellschaft umbauen, und das ist oft negativ konnotiert. Es gibt etwa die Methode des „Nudgings“, die Instinkte positiv reizt und triggert. Bislang haben wir unseren Verstand eingesetzt, um die Instinkte zu bedienen: Mehr Essen, mehr Reichtum, mehr Platz. Eigentlich müssen wir es umgekehrt machen: Die Instinkte einsetzen, um den Verstand zu bedienen. Das ist die Methode des Nudgings. Ich schlage zum Beispiel vor, dass klimapolitische Entscheidungen im Sommer abgestimmt werden sollten, weil Regen, Gewitter oder extreme Hitze dann viel spürbarer sind.

    Sehen Sie Nationen, die mehr im Einklang mit der Natur und den Wäldern leben? Von denen wir Deutschen etwas lernen können?

    Nein, überall gibt es schlechte und gute Beispiele. Das sieht man gut in den USA: An den Küsten gibt es viel grünen Fortschritt, dazwischen eher nicht. Wahrscheinlich gibt es hier auch eine Parallele zu den Wahlergebnissen und der Vorliebe für Demokraten und Republikaner. Die gute Nachricht: Es finden sich mittlerweile überall richtig gute Ansätze. Manche Länder sind etwas weiter vorne, etwa die Niederlande, Deutschland allerdings steht gar nicht so gut da. Wir sind im internationalen Vergleich schlechter, als wir denken. Wir denken, dass es nichts nützt, solange andere Staaten nicht mitmachen. Doch vielerrorts geschieht bereits deutlich mehr als hier; so hat etwa das bitterarme Ruanda fast das Zwanzigfache an Schutzflächen wie wir. Doch es tut sich etwas: Die junge Generation ist in Klimafragen etwa sehr engagiert, durch die Abschaltung der Atomkraftwerke wird überraschenderweise mehr Ökostrom genutzt, die Pkw-Nutzung in den Großstädten ist um zehn Prozent zurückgegangen – es passiert gerade sehr viel.

    Was braucht es noch?

    Eine echte Aufbruchstimmung – etwas, das die aktuelle Bunderegierung leider auch nicht hinbekommt. Ich würde mir eine Art emotional aufgeladenen Wettbewerb wünschen oder Kampagnen wie „Wer hat den coolsten Stadtwald?“ oder „Wer hat den größten Zubau an PV-Anlagen und Veggie-Restaurants?“ Ja, der Fleischkonsum geht zurück und es tut sich einiges, aber das könnte man beschleunigen, wenn das positiv konnotiert ist. Der Wechsel darf nicht als Verlust, sondern sollte als Gewinn etikettiert werden. Die Natur- und Menschheitsgeschichte ist davon geprägt, dass es kein Gleichgewicht gibt. Alle Lebewesen versuchen es zu erreichen, aber keinem gelingt es. Wenn man die Veränderung als etwas Positives wahrnimmt, dann erleben wir wirklichen Fortschritt.

    Was sagen Sie Menschen, die geografisch zu weit von Wäldern entfernt leben? Kommen Ihre Botschaften trotzdem an?

    Ich glaube, die kommen sehr gut an. Das Thema „Klimawandel“ wird den Menschen in den Städten viel klarer, als denen auf dem Land. Der Leidensdruck ist höher, weil man etwa den Verkehr sieht und weiß, dass man eigentlich von etwas ganz anderem abhängig ist. Das kann sehr frustrierend sein. Dabei haben die Städter ein großes Potenzial. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat etwa tolle Ideen zu verkehrsberuhigten Zonen. Die Avenue des Champs-Élysées soll teilweise in einen Park umgebaut werden – und Frau Hidalgo ist wiedergewählt worden. Die Städte sind ein Brennpunkt der Veränderung, denn dort müssen die Menschen auf viel mehr verzichten, als auf dem Land.

    Das Cover von Peter Wohllebens Buch "Unser wildes Erbe"

    „Unser wildes Erbe“, 256 Seiten, Ludwig Buchverlag, 23 Euro

    www.peter-wohlleben.de

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